Vom Großbetrieb über „größter Schandfleck“ zur Luxuswohnung. Unweit des Reilecks findet man ein Zeugnis hallescher Industriegeschichte: Die ehemalige Druckerei VEB Gravo Druck. An dieser Station erfahrt ihr mehr zum Aufstieg, Fall und Neuaufbau des Gravo-Komplexes.

Starten wir gleich mit einer kleinen Quizfrage:

Geschichte

Das Unternehmen VEB Gravo-Druck ging aus der von Carl Warnecke im Jahre 1889 gegründeten Lithographischen Kunstanstalt, Buch- und Steindruckerei hervor, die zuvor ihren Sitz in der Kleinen Ulrichstraße hatte. Anfang des 20. Jahrhunderts zog die Firma dann um an die uns heute bekannte Adresse am Reileck, hinter dem Kaffee Zwei-Zimmer-Küche-Bar.

Am neuen Standort entwickelte sich das Unternehmen zum Großbetrieb und wandelte seine Bezeichnung in Großdruckerei CAWAR (Carl Warnecke).

In der Zeit der damaligen DDR wandelte sich die Rechtsform in einen volkseigenen Betrieb. Zwischen 1960 und 1970 war jetzt der Gravo-Druck (Grafischer Volksbetrieb) Gesellschafter der Wezel & Naumann AG, einem Leipziger Druck- und Verlagshaus. Es wurden Verpackungsmaterial, Plakate, Werbeschriften und Postkarten produziert – unter anderem für Abnehmer im „nichtsozialistischen Ausland“. Die Rohstoffe für die hier hergestellten Etiketten und Verpackungen für westdeutsche Markenartikel mussten aus dem Westen importiert werden – die Fertigprodukte verschwanden wieder dorthin.

Im VEB Gravo-Druck gedruckte Grußkarte (Quelle (2))

Als der volkseigene Betrieb mit seinen 200 Mitarbeitern 1990 in eine GmbH umgewandelt wurde, wies er bereits zwei Millionen D-Mark Schulden auf. Zwei Jahre später, Anfang 1992, folgte die Insolvenz. Die Gebäude stehen seither leer. [1,2,3,4]

Die Lage der alten Druckerei (siehe Stadtplan) ist insofern interessant, als dass sie ein gutes Beispiel für die zunehmende funktionale Durchmischung der Städte im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert ist. Das Betriebsgelände lag mitten im bestehenden Wohnviertel mit Geschäften, medizinischen Einrichtungen und Unterhaltungslokalen. Damit entspricht es nicht dem Konzept der funktionellen Gliederung einer Stadt z.B. mit zentralen Wohnbereichen und peripher situierten Fabriken. Ein Grund für die Auswahl der zentralen Lage und enge Bebauung war der zunehmende Platzmangel in der Stadt durch die Landflucht und das Bevölkerungswachstum während des wirtschaftlichen Aufschwungs. Diesen Zustand der Städte im 20. Jahrhundert beschreibt der Architekt Wolfgang Sonne als „dichte Stadt“. [5,6]

Karte von Halle (Saale) Saale aus dem Jahr 1910 mit markiertem Gravo-Druck (Quelle (3))
Aktuelle Karte von Halle (Saale) mit markiertem Gravo-Druck (Quelle (4))

Heute

Halle (Saale) – Kaputte Dächer. Zerfetzte Fenster. Beschmierte Fassaden. Die Industrieruine der ehemaligen Gravo-Druck GmbH ist der größte Schandfleck am Reileck.“

Von Dirk Skrzypczak, 19.12.2019, in MZ.de

In den folgenden Jahren litten die Gebäude immer stärker unter Verfall, bis 2010 das Verwaltungsgebäude, und damit die Fassade des Areals, abgerissen werden musste. Im Februar 2018 Jahres kam es zu einem Brand, vier Monate später zum Einsturz eines Teils der ehemaligen Druckerei. Große Teile sind nun (wie auf den Bildern zu sehen) verfallen. [3]

Die Idee von Hühnermanhattan-Betreiber Gabriel Machemer, in den weitläufigen Räumlichkeiten nicht nur den Club Hühnermanhattan, sondern dazu noch weitere sozio-kulturelle Projekte unterzubringen, fand vor zehn Jahren leider keine Unterstützung. [4]

Trotz des ruinenartigen Zustandes, oder vielleicht gerade deswegen, und aufgrund der zentralen Lage, ist der Komplex ein sehr beliebter Abenteuerspielplatz für Jugendliche. Die hohe Anzahl an freien Wänden machen es zu einem Paradies für Graffiti-Writer oder Street-Art-Künstlern. Fast keine Wand der 6 Etagen ist noch unbemalt. Zudem haben sich Skater in der dritten Etage einen Skatepark samt Rampen und Rails und immer bereitstehenden Besen aufgebaut. In der obersten Etage lud lange eine Couchlandschaft aus Paletten zum Genießen der Aussicht ein. Da aber die Einsturzgefahr, wie auf den Bildern zu sehen, sehr hoch ist, muss letztlich vom Betreten der Gebäude abgeraten werden.

Zukunft

„Frankfurter Immobilienunternehmen investiert Millionen ins Reileck für Wohnungen“

Von Dirk Skrzypczak, 19.12.2019, in MZ.de

Anfang 2019 wurde der alte Gravo-Druck für 1,15 Millionen Euro an ein Leipziger Unternehmen verkauft. Mittlerweile hat dieses die Immobilie weiter veräußert an das Frankfurter Immobilienunternehmen Norsk. Dieses will nun rund 45 Millionen Euro in den Umbau investieren. Noch in diesem Jahr sollen 11.300 Quadratmeter Wohnraum sowie Gewerbe- und Einzelhandelsflächen auf 2.800 Quadratmetern entstehen. Auch ein Biomarkt soll in das Erdgeschoss einziehen. „Für unser Engagement in der Stadt gibt es viele Gründe. Nach Berlin ist Halle gemeinsam mit Leipzig der zweitgrößte Wirtschaftsraum in Ostdeutschland“, so Norsk-Chef Thomas Schulze im unten verlinkten Werbevideo.

Nach Angaben von Norsk, soll das noch stehende Haupthaus in seiner Grundidee renoviert werden und somit erhalten bleiben. Die bereits stark eingefallene zweite Hälfte soll hingegen durch gänzlich neue Gebäudekomplexe ersetzt werden. Auch die angrenzenden Parkflächen sollen neu bebaut werden. Nach Angaben der MZ sind sowohl Norsk, als auch die Stadt Halle daran interessiert die offenen Fassaden zu schließen. [1,3,4,7,8]

Die neuen Bauvorhaben gliedern sich gut in das Areal rund um das zentrale Reileck mit dem umgebenden Paulus- und Mühlwegviertel ein. Das höhere Preisniveau der Wohnungen und die Idee des Biomarktes passen zum fast gänzlich gentrifizierten Paulusviertel. Hier ändert sich also die Funktionsweise des Bauwerkes weg von der Produktion hin zu Wohnen und Lebensmittelversorgung.

Wer sich noch stärker für das neue Bauprojekt interessiert, dem kann ich das Werbevideo und das zugehörige Exposé von Norsk empfehlen.

Die Alte Ruine des Ehemaligen VEB Gravo-Druck ist interessant als Bauwerk des frühen 20. Jahrhunderts, als wichtiger Betrieb in der DDR, als Lost Place für Abenteuerlustige und Fotografen und schlussendlich als Investitionsobjekt. Die Funktion und Bedeutung des Gebäudes hat sich im Laufe der Jahre vollständig geändert und wird dies auch in Zukunft tun.

Ein Denkmal ist das Haus aus dem frühen 20. Jahrhundert trotz alledem, sechs Etagen mitteldeutscher Industriegeschichte, die nur einige Nebengebäude und den früher an der Fassade prangenden Schriftzug „Gravo Druck“ eingebüßt haben. Ein letztes Mal wird es jetzt möglich sein, die Architektur und die Graffiti zu betrachten, denn bereits zum Jahresanfang 2022 sollten die Abrissarbeiten beginnen und damit der Grundstein für eine neue Fassade am Reileck gesetzt werden. [8]

Textquellen

[1] Skrzypczak, Dirk: Wohnen im Gravo-Druck: Was der hessische Investor auf dem Gelände am Reileck plant, in: Mitteldeutsche Zeitung, 2019, https://www.mz.de/lokal/halle-saale/wohnen-im-gravo-druck-was-der-hessische-investor-auf-dem-gelande-am-reileck-plant-1631222 (abgerufen am 9. Januar 2022)

[2] Autor unbekannt: VEB Gravo-Druck, in: Halle im Bild, 2015, https://www.halle-im-bild.de/fotos/industrie/veb-gravo-druck (abgerufen am 9. Januar 2022)Keanu, N.: Industriedenkmal Gravo Druck: Letzter Aufruf Abrissbirne, 2019, https://www.koenau.de/2019/02/industriedenkmal-gravo-druck-letzter.html (abgerufen am 9. Januar 2022)

[3] Falgowski, Anna: Gravo-Druck-Gebäude in Halle: Ruine am Reileck zwangsversteigert, in: Mitteldeutsche Zeitung, 2019, https://www.mz.de/lokal/halle-saale/gravo-druck-gebaude-in-halle-ruine-am-reileck-zwangsversteigert-1527924 (abgerufen am 9. Januar 2022)

[4] Skrzypczak, Dirk: Vom Schandfleck zum Wohnquartier: Der Plan für das ehemalige Gravo Druck, in: Mitteldeutsche Zeitung https://www.mz.de/lokal/halle-saale/gravo-druck-gebaude-in-halle-ruine-am-reileck-zwangsversteigert-1527924(abgerufen am 9. Januar 2022)

[5] Sonne, Wolfgang: Kultur der Urbanität. Die dichte Stadt im 20. Jahrhundert, in: hsozkultur, 2006, https://www.hsozkult.de/debate/id/diskussionen-775 (abgerufen am 9. Januar 2022)

[6] Fürst, Franz: Leitbilder der räumlichen Stadtentwicklung im 20. Jahrhundert Wege zur Nachhaltigkeit?, in: researchgate, 1999https://www.researchgate.net/publication/40842547_Leitbilder_der_raumlichen_Stadtentwicklung_im_20_Jahrhundert_Wege_zur_Nachhaltigkeit (abgerufen am 9. Januar 2022)

[7] Autor unbekannt: Industriebrachen in Halle werden attraktiv, in: HallescheImmobilien, 2020, https://www.hallesche-immobilienzeitung.de/industriebrachen-in-halle-werden-attraktiv/ (abgerufen am 9. Januar 2022)

[8] Reileck Quartier – Halle, in: Bergfürst, 2021, https://de.bergfuerst.com/immobilien/reileck-quartier-halle/expose (abgerufen am 9. Januar 2022)

Bildquellen

Alle Bilder sind mit Creative-Common-Lizenzen freigegeben. Bilder ohne angegebene Quelle sind von mir selbst fotografiert.

(1) Bild Hinter der Überschrift „Geschichte“: Roger Rössing, Leipzig,  CC by Attribution-Share Alike 3.0 Germany

(2) Hans-Michael Tappen, Halle (Saale), CC by Archiv A88 Ostalgie

(3) Michael Ritz, Mönchengladbach, CC by 2000 – 2018 LANDKARTEN & STADTPLAN INDEX

(4) Screenshot von Apple Karten

(5) Bild hinter der Überschrift „Zukunft“: CC0